Denkmal
Dunkles Bunkersystem unter der City: Stadtarchäologe sucht Zeitzeug*innen
Unter Dortmund schlummert ein einmaliges Erbe, über das weniger bekannt ist, als man annehmen könnte: Ein weitverzeigtes Bunkersystem mit düsteren Gängen zieht sich zwischen Westpark und Hauptbahnhof. Der Tiefstollen ist über 4,5 Kilometer lang.
Lost Place - ein Bunkersystem unter der City: Das dunkle Labyrinth zieht sich auf einer Länge von über 4,5 Kilometern unter der Dortmunder Innenstadt. Quelle: YouTube
Unbestätigten Quellen zufolge soll es sich bei dem Bunkersystem um die größte zivile Luftschutzanlage Europas handeln. "Möglichweise ist es auch das weltweit größte zivile Luftschutzstollensystem, das noch in weiten Teilen erhalten ist. Die ersten Grabungen dazu begannen in den späten 30er Jahren", erklärt der Dortmund Stadtarchäologe Ingmar Luther. Die Anlage diente dazu, den Menschen in der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg Schutz vor Bombenangriffen zu bieten.

Das Team von Stadtarchäologe Ingmar Luther dokumentiert Relikte vom Bau der Bunkeranlage aus den 1940er Jahren.
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Fachbereich Marketing + Kommunikation / Roland Gorecki
Luther, sein Team und das Katasteramt lassen den Tiefstollen seit 2021 vermessen. Außerdem dokumentieren sie Fundstücke. Der Originalzustand der Anlage schwindet zusehends. In den 70er und 80er Jahren wurden teils große Stollenabschnitte verfüllt, mit Beton ausgekleidet oder zugemauert - ohne dass dies dokumentiert wurde.
Auch sind immer wieder Menschen illegal in das Bunkersystem hinabgestiegen. Es wurden viele Graffitis an die Wände gesprüht, aber auch Schäden durch Vandalismus verursacht. Zwei mit Stahltüren verriegelte Einstiege an geheimen Orten gibt es derzeit noch - alle übrigen Zugänge wurden zugemauert, damit nicht noch mehr Menschen illegal hinabsteigen. Insgesamt gab es mehr als zehn Einstiege.
Anlage nicht mehr als Bunker nutzbar
Die Anlage erfährt gerade durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wieder mehr Aufmerksamkeit. Es gibt viele Fagen zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland. Fest steht: Der Dortmunder Tiefstollen kann in seinem jetzigen Zustand nicht als Bunkeranlage genutzt werden.
Trotzdem werden viele Erinnerungen an die weit verzweigte Anlage wach. Für die Denkmalbehörde sind diese, häufig traurigen oder auch schrecklichen Erinnerungen an die Zeit im Bunker wertvoll. Aber auch jene Geschichten vom kleinen Glück im Unglück sollen nicht in Vergessenheit geraten und festgehalten werden.
Erinnerungen von Zeitzeug*innen gesucht
Deshalb werden jetzt Zeitzeug*innen gesucht, die den Bunker noch aus eigenem Erleben kennen - vielleicht dort eine Zeit lang Schutz fanden oder bei Renovierungsarbeiten in den 70er-Jahren mitgewirkt haben. "Diese Zeugnisse möchten wir als Denkmalbehörde in Kooperation mit dem Stadtarchiv sammeln und auswerten. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir möglichst viele Dortmunder*innen mit dem Aufruf erreichen und davon überzeugen können, uns ihre Geschichten zu erzählen", sagt Ralf Herbrich, Leiter der Denkmalbehörde. "Oft stecken in Nebensächlichkeiten für uns ganz wertvolle neue Erkenntnisse."
Dabei sind Berichte von Schutzsuchenden während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg ebenso wichtig wie Kindheitserinnerungen aus den Nachkriegsjahren, als die Luftschutzanlage als Passage unter der Innenstadt und "Spielplatz" diente. "Vielleicht bekommen wir auf diesem Wege sogar noch unbekannte und private Fotos zusammen. Auf jeden Fall möchten wir die persönliche Geschichten festhalten und mit den 'nüchternen' Fakten des Tiefstollensystems für die Nachwelt verknüpfen", sagt Ralf Herbrich.
Zum Thema
Wer hat Erinnerungen an das Bunkersystem unter der Dortmunder Innenstadt? Wer hat vielleicht sogar Fotos? Wer kann von den Arbeiten in Zeiten des Kalten Krieges von 1976 bis 1984 berichten?
Die Denkmalbehörde mit Stadtarchäologe Ingmar Luther sucht Geschichten von Zeitzeug*innen.

Schauspieler Jörg Hartmann hat für den Tatort aus Dortmund auch in der alten Bunkerlange gedreht. Die Folge wird 2023 ausgestrahlt.
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Fachbereich Marketing + Kommunikation / Roland Gorecki
"Tatort"-Dreh im Tiefstollen
Auch über die Grenzen von Dortmund hinaus ist die unterirdische Anlage bekannt. Die WDR-Filmcrew des Dortmunder "Tatorts" hatte im vergangenen Jahr um Drehgenehmigung im Tiefstollen gebeten. Im Frühjahr 2022 fanden Filmaufnahmen in 17 Metern Tiefe statt. Bislang gab es nur die Vorpremiere dieser "Tatort"-Folge im Open-Air-Kino am Hochofen auf Phoenix-West zu sehen. Im ARD-Programm wird der "Tatort" 2023 gezeigt.
Der Dreh fand unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen statt. Wer sich unerlaubt Zutritt zum Stollen verschafft, bringt sich in ernsthafte Gefahr. Denn in dem weitverzweigten Stollensystem können unerwartete Wassereinbrüche und das Kippen der Atmosphäre ebenso tödlich sein wie einsetzende Panik und damit einhergehende Orientierungslosigkeit. An nur vier Stellen lässt sich mit dem Smartphone ein Notruf absetzen.
Bilderstrecke: Bunkersystem unter der Dortmunder City birgt viele Geheimnisse
Weit verzweigt ziehen sich die Gänge des über 4,5 Kilometer langen Bunkersystem unter der Dortmunder Innenstadt. Der Zutritt in die Anlage ist für Unbefugte strengstens verboten. Im unterirdischen Tiefstollen können giftige Gase auftreten. Außerdem kann man sich in der Dunkelheit in dem Stollensystem schnell verlaufen. Im Frühjahr 2022 fanden dort Dreharbeiten zum "Tatort" statt.

Was bislang über das Luftschutzstollensystem bekannt ist
Vielleicht bereits seit den späten 1930er Jahren, sicher aber mit Kriegsbeginn, war mit dem Stollenvortrieb durch die Nationalsozialisten begonnen worden. 1943 wechselte die Zuständigkeit für den Bau der Luftschutzanlage zur Organisation Todt und die technische Leitung an die Tiefbau- und Bohrfirma Deilmann aus Dortmund-Kurl, was eine Intensivierung des Ausbaus zur Folge hatte. Denn spätestens seit diesem Zeitpunkt wurden fast ausschließlich Zwangs- und Fremdarbeiter*innen für den Aus- und Weiterbau eingesetzt.
"Die unbeschreibliche Größe des Stollensystems lässt nur im Ansatz ahnen, wie viele Menschen zur Arbeit unter Tage für den Stollenvortrieb und Ausbau eingesetzt waren und wie viele dabei ihr Leben ließen", erklärt Stadtarchäologe Ingmar Luther.
Bis zu 120.000 Menschen sollten im Zweiten Weltkrieg Schutz finden
Mit der Fertigstellung der Luftschutzanlage wäre ein Stollennetz unter der Innenstadt von Dortmund mit einer Länge von knapp neun Kilometern entstanden. 80.000 bis 120.000 Menschen sollten in dem Bunkersysstem unter der City Schutz finden können. Die Planung konnte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht vollständig realisiert werden.
Dennoch suchten viele Dortmunder*innen in dem unfertigen, aber bis auf etwa sechs Kilometer Länge angewachsenen Tunnelsystem während der über 100 Luftangriffe zwischen Mai 1943 und März 1945 Schutz. In den letzten Kriegsmonaten wurde ein großer Teil der schriftlichen und zeichnerischen Dokumentation des Stollenbaus vernichtet.
Zwischen 1976 und 1984 wurde erneut am Stollensystem gebaut. Verschiedene Gänge wurden mit Beton ausgekleidet. Hier finden sich inzwischen auch viele Grafittis an den Wänden. Illegal sind Künstler*innen mit ihren Spraydosen eingestiegen.
Heutiger Zustand des Tiefstollens
Heute handelt es sich um eine zweigeteilte Anlage: Während das Teilstück vom St.-Johannes-Hospital bis zum Westpark noch im fast ursprünglichen Zustand verblieben ist, fanden in dem nördlichen Bereich der Tiefstollenanlage bis zum Hauptbahnhof in den späten 70er und 80er Jahren Renovierungsarbeiten statt.
Die Planung sah vor, dass die Stollen ihre Funktion als öffentliche Zivilschutzanlage während des Kalten Krieges beibehalten. Die alten Stollenwände wurden dazu mit Rippenblech, Spritzbeton oder einer zweiten Betonhaut ausgekleidet und die Böden mit einer ebenen Betonschicht versehen. Auch von diesen Arbeiten am Tiefstollensystem fehlt bislang fast jegliche Information.
Nur wenige Relikte, die mehr verraten
Relikte, wie die verbliebenen Bohrgestänge der (Zwangs-) Arbeiter*innen im Bereich eines unvollendeten Stollens oder eine Krankentrage sind dabei ebenso wichtig wie schriftlichen Zeugnisse, die die Schutzsuchenden während der Bombenangriffe in einem der sogenannten "Trocken-Aborte" hinterließen oder eine "BILD"-Zeitung von 1978, die die Aktivität in dem Luftschutzstollen während des Kalten Krieges belegt.
Dieser Beitrag befasst sich mit Verwaltungsangelegenheiten der Stadt Dortmund. Dieser Hinweis erfolgt vor dem Hintergrund aktueller Rechtsprechung.