Alte Koerne Haus

Stadtarchiv

Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Fachbereich Marketing + Kommunikation / Roland Gorecki

Der Kaiser und die verschwundene Kaiserurkunde

Eine mittelalterliche Urkunde verschwindet, taucht wieder auf und geht für immer verloren

Hafeneinweihung: Das Schiff des Kaisers hat angelegt

Hafeneinweihung: Das Schiff des Kaisers hat angelegt
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

(Stadtarchiv Dortmund, Bestand 3 Stadtverwaltung Dortmund (1803-1929), Nr. 607, Laufzeit 1899-1908, Beschreibung: fadengeheftete Akte)

An zu großer Hitze wie in den letzten Wochen kann es jedenfalls nicht gelegen haben, dass am 11. August 1899, als Kaiser Wilhelm II. Dortmund besuchte, einem städtischen Beamten ein Fehler unterlief, der zum Verschwinden einer der berühmtesten mittelalterlichen Kaiserkunden der Reichsstadt Dortmund führte. An jenem Freitag war „herrliches Kaiserwetter“: „nicht zu warm und dabei etwas bedeckter Himmel“, wie die Dortmunder Zeitung berichtete. Seit Monaten war der Besuch minutiös geplant worden: Um 9.40 Uhr landete das Kaiserpaar, zu Schiff vom Hebewerk Henrichenburg kommend, am Hafenamt an, wo Tribünen für die Zuschauer erbaut waren. Wilhelm II. und Auguste Viktoria wurden von allen, die in Dortmund Rang und Namen hatten, feierlich empfangen und von Tausenden Schaulustigen entlang der geschmückten Straßen mit Hurrarufen begrüßt. Es galt, den Dortmund-Ems-Kanal, der die enorm angewachsene Industriestadt mit der Nordsee verband und den in nur vier Jahren erbauten Binnenhafen in einem großen Festakt zu eröffnen.

Kaiser auf dem Weg zum Rathaus, vor Hotel Kaiserhof / Burgwall

Kaiser auf dem Weg zum Rathaus, vor Hotel Kaiserhof / Burgwall
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

Außenansicht Rathaus um 1900

Außenansicht Rathaus um 1900
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

Man hatte den Kaiser hergelockt mit dem für Dortmund typischen Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne: Die für die Ur-Hanse so bedeutende Stadt Dortmund erhielt endlich einen Hafen, zeigte stolz den technischen Fortschritt im größten Stahlindustrie- und Bergbauwerk „Union“ und lud mittags im möglichst mittelalterlich wiederhergestellten Rathaus zum Empfang. Stolz darauf, dass Dortmund über Jahrhunderte freie Reichsstadt, also nur dem Kaiser untertan gewesen war, knüpften der Oberbürgermeister Wilhelm Schmieding und die Stadtverordneten mit einer Huldigungsfeier an den letzten Kaiserbesuch in der Stadt vor 500 Jahren an. Dem Kaiser wurde das Goldene Buch der Stadt vorgelegt, in das er sich als erster eigenhändig eintrug, und nachdem er den ihm kredenzten Ehrenpokal geleert hatte, ging es „zur Besichtigung des Rathauses in bester Laune“.

Ratssaal

Ratssaal
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

Initiale „L“ der Kaiserurkunde von 1332

Initiale „L“ der Kaiserurkunde von 1332
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

Nicht nur die eigens angefertigten Gegenstände des Ratssilbers, die Raumausstattung und Wandbemalung zeigten Szenen aus dem mittelalterlichen Dortmund, es wurden auch echte Überbleibsel aus der idealisierten Vergangenheit ausgestellt: etliche Pergamenturkunden aus dem Dortmunder Stadtarchiv. Unter ihnen auch eine Urkunde von 1332, in der Kaiser Ludwig IV. der Stadt Dortmund ihre Vorrechte bestätigte. Die aufwendig ausgestaltete Initiale „L“ zeigt Kaiser Ludwig auf einem Baldachinthron, zu seinen Füßen kniend zwei Personen aus der damaligen Elite Dortmunds: der Hansekaufmann und Bruder des Bürgermeisters Hermann Klepping, der im Englandhandel zu solch großem Reichtum gelangt war, dass der englische König in seiner Schuld stand, und der Stadtschreiber und Pfarrer von St. Reinoldi Bertram Sudermann.

Nach der Abreise des Kaiserpaars um 13 Uhr gingen die Feierlichkeiten mit einem Festessen für 400 geladene Gäste im Fredenbaum weiter und im Rathaus wurden die ausgestellten Kaiserurkunden zusammengepackt. Am Montagabend ordnete Dr. Karl Rübel, der das Stadtarchiv im neu erbauten Stadthaus am Friedensplatz leitete, die Urkunden, die er persönlich den Architekten des Rathauses gegen Quittung ausgeliehen und nach dem Wochenende von diesen zurückerhalten hatte. Als er bemerkte, dass die große Pergamenturkunde von 1332 mit der Signatur 252a nicht mit den restlichen zurückgekommen war, wurde sofort Meldung bei der Kriminalpolizei gemacht.

Aktendeckel Bestand 3, Nr. 607

Aktendeckel Bestand 3, Nr. 607
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Alle Rechte vorbehalten Stadt Dortmund / Stadtarchiv

Im Verlauf des Verfahrens wurde eine preußischblaue Akte angelegt, die heute im Bestand 3 des Stadtarchivs Dortmund verwahrt wird. Derjenige, der die „Spezial-Akte“ anlegte, gab ihr – noch ganz im Taumel des gerade stattgefundenen Kaiserbesuchs – den falschen Titel „Die Kaiserurkunde von 1832“, was dann mit Bleistift gestrichen und durch 1332 ersetzt wurde.

Rübel ging sofort vom Schlimmsten aus, als er in seinem Bericht die prächtige Ausschmückung der Urkunde beschreibt: „Der Abbildung wegen könnte sie für einen Dieb verlockend gewesen sein. Ich selbst habe Zutritt zum Rathaussaale nicht gehabt. Herr Bauinspektor Kulrich weiß bestimmt, daß die Urkunde bei Eintritt S. Majestät auf der Truhe gelegen hat. Die jedem auffallende Urkunde muß auch vielen anderen, die den Raum betreten haben, aufgefallen sein… Es muss also zu konstatieren sein, ob sie bei Schluß des Festes noch auf der Truhe gelegen hat.“ Kriminalkommissar Schenk meldete: „Es liegt die Vermuthung nahe, daß unter den nachher erschienenen Gästen einer sich befunden hat, der die Urkunde hat verschwinden lassen. Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, wer alles den Rathhaussaal an jenem Mittag besucht und besichtigt hat. Es dürfte zweckmäßig sein, durch das ‚Auswärtige Amt‘ feststellen zu lassen, ob nicht bei den Archiven in Zürich, London, Florenz und Rom das Angebot der Urkunde, die nur für Liebhaber und Archive Werth hat, erfolgt. Vielleicht bleibt sie auch Jahre lang im Privatbesitz.“ Von nun an wurde einmal im Quartal, dann jährlich an den Magistrat Bericht erstattet, dass die Urkunde weiter verschwunden blieb. Rübel erkundigte sich in den nächsten Jahren auf den Fachtagungen der deutschsprachigen Archive „unter möglichster Geheimhaltung“ ergebnislos, ob der Kollegenschaft seine Urkunde zum Kauf angeboten worden war. Ein Trost für die Wissenschaft sei, dass er den Text der Urkunde im „Dortmunder Urkundenbuch“ in Gänze veröffentlicht habe.

Endlich, wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, wurde dem Magistrat am 23. Dezember 1907 Mitteilung vom Archivleiter gemacht, dass die Kaiserurkunde wiedergefunden wurde und zwar im Stadtarchiv selbst, „bei den Kaiserurkunden des 18ten Jahrhunderts in einer Schachtel, in der 2 Kaiserurkunden aufbewahrt werden.“ Die Urkunde war also doch mit allen anderen ans Archiv zurückgegeben worden, wo sie über acht Jahre unentdeckt geblieben war. Rübel selbst kann sich das nur so erklären: Die Urkunde müsse in die Kaiserurkunde von 1746 „so eingeschlagen gewesen sein, daß sie unbemerkt blieb und auch bei Revisionen, die seitdem öfter stattgefunden haben, unbemerkt blieb.“ Warum die Urkunde nun plötzlich bei der letzten Durchsicht obenauf lag, konnte nicht geklärt werden: „Der Beamte, der die Urkunde in der Schachtel aufgefunden haben müßte und oben auf die von 1748 gelegt haben müßte, ohne mir Mitteilung zu machen, ist zur Zeit nicht vernehmungsfähig, da er zur Zeit in Aplerbeck in der Anstalt dort sich befindet, wo er wiederholt und schon vor 1899 gewesen ist. In den Perioden seiner Gesundheit war er durchaus zuverlässig und gewissenhaft.“ Trotz Rübels Ungewissheit, ob nicht doch ein Diebstahl vertuscht werden sollte, wurde das Verfahren eingestellt und die Akte geschlossen.

Die verschwundene und wieder aufgefundene Urkunde überstand zwar die Bombardierung Dortmunds im Zweiten Weltkrieg, aber im Sommer 1945 fiel sie in ihrem sauerländischen Auslagerungsort Plünderungen zum Opfer und ist seitdem – mit zehntausend anderen Archivalien – endgültig verschwunden. Von ihr blieb nur das oben gezeigte Schwarzweißfoto der Initiale und der im Urkundenbuch veröffentlichte Text. Die umso schützenswerteren Überreste des Dortmunder Mittelalters werden übrigens im Herbst einer Revision unterzogen und im Rahmen des Notfallplans innerhalb des Magazins so umgeräumt, dass sie im Katastrophenfall schneller evakuiert werden können.