Freiheit – die Liebe zum Andersdenkenden
Gertrud-Bäumer-Realschule
"Feigling", "Du Opfer", "Dumme Sau" - Freitag, 4. Februar, 12 Uhr in der Aula der Gertrud-Bäumer-Realschule (GBR). Die Beschimpfungen gehören zu einem Stück, dass die Theater-AG der Schule geschrieben hat und nun aufführt. Worum es den beiden 15- und 16-jährigen Mädchen geht, die sich so denkwürdig beschimpfen, ist zu zeigen, wie bitter schon verbale Demütigungen sind. Am Ende des Stücks werben Kavok Abdul Karim und Zilha Balic eindrücklich für gegenseitigen Respekt. Von Gaye Suse Kromer

Schulleiter Henry Godglück
Bild (Bildlizenz/Fotograf/Grafiker): Fachbereich Marketing + Kommunikation / Soeren Spoo
Anlass der Aufführung ist die Verleihung des Zertifikats "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" an die GBR. Damit zeichnen die Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) etwa Schulen aus, die sich im besonderen Maße gegen Diskriminierung und für Zivilcourage einsetzen.
"Die Zertifizierung unserer Schule ist ein sehr positives Zeichen, vor allem nach außen", so Schulleiter Henry Godglück. Er bringt die Ausrichtung der Schule mitten im Norden der Stadt schnell auf den Punkt: "Antirassismus ist unser Alltagsgeschäft". "Alltag" verstanden als lebendige, kontinuierliche Aufgabe und nicht als bleierne, monotone Pflicht.
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Engagement bildet das Herzstück unserer Schule
Die 650 Schülerinnen und Schüler der GBR haben zu 90 Prozent einen Zuwanderungshintergrund. Sie kommen aus 27 Nationen. Insbesondere Türkei, Albanien, Ex-Jugoslawien, Marokko und Sri Lanka sind vertreten. Eine aktive Umgehensweise mit der Situation schulintern bleibt da nicht aus. Genauso wenig bleibt die Auseinandersetzung mit den von außen angetragenen Vorbehalten gegen eine Schule mit hohem Migrantenanteil aus – die medial durchgehechelte Berliner Rütlischule lässt grüßen.
Nachhaltiges Wirken
Godglück stellt klar: "Eine der Befürchtungen ist, dass hier mehr Gewalt als auf anderen Schulen herrscht." Ein Vorurteil – mehr nicht. Ebenso sind keine Schmierereien auf Schulklos zu finden. Rowdys haben keine Chance. Man grüßt auf dem Flur und hält sich die Tür auf. Es herrscht das Prinzip der Höflichkeit.

Der Schulleiter legt Wert auf Austauschen zwischen Lehrern, Eltern und Schülern
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"Natürlich gibt es hier wie anderswo nicht ständig 'Friede, Freude, Eierkuchen'. Und natürlich kommt es auch bei uns zu Rangeleien oder Beleidigungen", räumt der Schulleiter ein. In diesem Fall greift ein klarer Ablauf: "Wir reagieren schnell. Die Vergehen werden mit Strafen belegt und mit Wiedergutmachungen verknüpft."
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Die Eltern müssen uns vertrauen und das Vertrauen bekommen wir, weil wir viel mit ihnen reden
Wie mit einem Verstoß umgegangen wird, entscheidet der Runde Tisch. Innerhalb von zwei bis maximal drei Tagen sitzen Lehrer, Schüler, Eltern zusammen. Sie entscheiden jeden Fall gemeinsam und individuell. "Wir ziehen in der Regel mit den Eltern an einem Strang. Die Teilnahme der Schülergruppe ist wichtig. Es ist das Signal, zu zeigen, dass ihre Meinung gefragt ist." Auch kann bei Bedarf der Sozialarbeiter hinzugezogen werden. Der Runde Tisch ist allerdings die letzte Deeskalationsstufe.
Besondere Rollen
Noch vor dem Runden Tisch greift die Fürsorge der Klassenlehrer. Sie erfüllen eine elementare Aufgabe. Mit oder ohne besondere Vorkommnisse. Liebeskummer, schlechte Noten, Stress mit Freunden – sie sind die ersten Ansprechpartner. Trotz aller Parallelität zu anderen Schulen lassen sich Besonderheiten festmachen: oft steht einer Familie wenig Geld zur Verfügung, die Zahl Alleinerziehender wächst, die Eltern sind nicht automatisch der deutschen Sprache mächtig.

Zehntklässlerinnen Zilha Balic (links) und Kavok Abdul Karim sehen sich als Vorbilder für die jungen Schüler.
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Und nicht zuletzt gehören die häuslichen Aufgaben dazu: Jugendliche, speziell Mädchen, sind im Haushalt oder bei der Betreuung der Geschwister stark gefordert. "In der Schule bekommen sie den Freiraum, Freunde zu treffen, durchzuatmen oder sich an AGs zu beteiligen. Dafür müssen uns die Eltern vertrauen und das Vertrauen bekommen wir, weil wir viel mit ihnen reden", erklärt der Schulleiter.
Die Haltung der beiden Schülerinnen Kavok Abdul Karim, geboren im Irak, und Zilha Balic, geboren in Ex-Jugoslawien, zu ihrer Schule ist einfach. "Wir gehen gerne hier hin", so die Zehntklässlerinnen. Sie arbeiten aktiv in der Schülervertretung und der Theater-AG mit und sind auf dem Sprung ins Gymnasium. Zilha empfindet ihre Klassenlehrerin "voll korrekt. Sie kennt unsere Insiderwitze und unterstützt uns, wenn es mit den Noten eng wird. Zu ihr kann man immer gehen, auch wenn es Zuhause Probleme gibt".
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Voll korrekt!
Kavok, die später Jura studieren will, sieht ihre Rolle als die "Große" der GBR ganz klar: "Für die Jüngeren wollen wir Vorbilder sein. Wir gehen auch mal dazwischen, wenn es rappelt – aber das passiert selten." Ein Wehrmutstropfen bleibt: "Es ist traurig, dass wir nächstes Jahr aufs Gymnasium gehen. Der Zusammenhalt der Klasse ist ziemlich stark. Außerdem sehen wir unsere Klassenlehrerin dann nicht mehr."
Einfach Deutsch lernen
Dass die Kooperation zwischen Lehrer- und Schülerschaft nicht nur ein subjektiv gefühlter Eindruck ist, hat die Schule letztes Jahr schwarz auf weiß bei einer Qualitätsanalyse bestätigt bekommen. Godglück dazu: "Ich bin sehr stolz auf die gelebte Solidarität." Während sich bundesweit noch über die "richtigen" Integrationskonzepte die Köpfe heiß geredet wird, macht die GBR Nägel mit Köpfen: Ein Gebot etwa ist es, auf dem Schulhof deutsch zu sprechen, um niemanden auszugrenzen. Verbote hält Godglück hier für kontraproduktiv: "Das erzeugt Widerwillen. Wir wollen das Gegenteil – eine positive Einstellung zur deutschen Sprache."

Die GBR-Schüler sind sehr ehrgeizig
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Je zwei Deutschlehrer betreuen in den Jahrgangsstufen 5 bis 8 eine Klasse. Das ermöglicht die Einrichtung kleinerer Gruppen im Klassenverband, um auf individuelle Sprachbedürfnisse eingehen zu können. Außerdem hält die Schule engen Kontakt zur Stadt- und Landesbibliothek, unterhält selbst eine kleine Bücherei. Und jährlich sammeln sich die Fünft- sowie Sechstklässler in der Gertrudisgemeinde zum Interreligiöses Gebet.

Tolerantes Miteinander wird auf der GBR jeden Tag gelebt
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Die Kurse sind ihren Lebensumständen angepasst, finden vormittags statt. Falls gewünscht, wird eine Kinderbetreuung für ihre ganz Kleinen organisiert. Alle Aktivitäten stellen hohe Anforderungen an die Lehrerschaft. Godglück: "Die Kollegen, die hier arbeiten, wollen sich aktiv einbringen. Ihr Engagement bildet das Herzstück unserer Schule".

Mathe- und Erdkundelehrer Christof Birkendorf inmitten seiner fünften Klasse
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Engagement konkret
Christof Birkendorf ist einer dieser engagierten Lehrer. Der Mathe- und Erdkundelehrer hat sich bewusst für die GBR entschieden: "Ich finde das Multikulturelle extrem spannend. Die hohe Kommunikationsdichte bringt Leben in die Schule. Mir gefällt die große Ehrlichkeit der Schüler und Eltern." Als großen Pluspunkt verbucht Birkendorf die fehlenden Berührungsängste der Jugendlichen: "Sie sagen einem sehr direkt, was ihnen gefällt oder eben nicht".
Birkendorf leitet unter anderem die Fußball-AG für Mädchen: "Wir versuchen auch über den Sport das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken." Es wirkt offensichtlich: Das Training lassen die kleinen Fußballerinnen nur ausfallen, wenn es wirklich nicht anders geht.
Zum Thema
Jeden Schritt, den die Schüler nach vorne machen, begleiten Birkendorf und sein Lehrerkollegium mit großem Einsatz: "Wir sind sehr stolz darauf, dass es die meisten auf weiterführende Schulen schaffen. Unsere Schüler sind im Schnitt extrem ehrgeizig". Ebenso wollen die Eltern, dass ihre Kinder weiterkommen, vielleicht sogar studieren. Der Lohn der Arbeit für alle Seiten: Die GBR-Schüler liegen bei der Lernstandserhebung im Fach Englisch deutlich vorn.
Förderung, Respekt, Anerkennung, Freude aneinander: Alles könnte so einfach sein. Alles ist so einfach. Die Gertrud-Bäumer-Realschule macht es vor. Oder, wie es eine Schülerin im Theaterstück bei der Zertifikatsüberreichung treffend formulierte: "Freiheit ist für mich die Liebe am Leben" – und nicht zuletzt die Liebe zum Andersdenkenden.
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