Beiträge der Gedenkstätte Steinwache
Eine Polizeikaserne als Ausgangspunkt zum Massenmord
Stefan Klemp
Dortmunder und Kamener Gendarmen im "Osteinsatz"
Am 1. April 1944 war der Kommandeur der Ordnungspolizei im Distrikt Lublin mit einem Vorschlag zur Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes 2. Klasse mit Schwertern einverstanden, und das war kein Scherz. Der SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, Jakob Sporrenberg, befürwortete den Vorschlag am 5. April 1944. Herrmann K. von der Kleinen Gendarmerie-Kompanie Münster hatte wiederholt "Erfolg" bei der "Bandenbekämpfung". So gelang ihm am 4. November 1942 die "Vernichtung einer 65-köpfigen plündernden Judenbande". Im Januar 1943 vernichtete er eine "32köpfige Zigeunerbande". Damit hatte er mit der Teilnahme am Völkermord aus Sicht seiner Vorgesetzten Mut und Tapferkeit bewiesen.
Bilderstrecke: SA-Feldjägerkorps - Motorisierte Gendarmerie - Aktion Erntefest
Die uniformierte Schutzpolizei hatte einen großen Anteil an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Mobile Polizeibataillone bewachten während des Zweiten Weltkrieges Deportationszüge, Ghettos und Konzentrationslager oder töteten unschuldige Zivilisten bei Massenexekutionen.
Im Juni 1942 kam eine weitere Einheit hinzu: Das 1. Gendarmeriebataillon. Es wurde bei der "Aktion Reinhardt" im Distrikt Lublin zur Ermordung von unschuldigen Zivilisten eingesetzt. Neu ist die Erkenntnis, dass der Regierungspräsident Arnsberg eine kleine Gendarmerie-Kompanie für das Bataillon abstellte. Sie war in Kamen stationiert.
Eine neue Kaserne für bewährte Nationalsozialisten
SA-Männer aus Dortmund und Bochum stellten das Stammpersonal für die 72köpfige Gendarmeriebereitschaft in der Kaserne, die 1938 eingeweiht wurde und bis heute an der Dortmunder Allee am Kamener Bahnhof steht. Die Dortmunder Polizeipräsidenten, die SA-Gruppenführer Wilhelm Schepmann und Otto Schramme, hatten die "alten Kämpfer der Bewegung" nach 1933 in die Polizei geholt.
SA-Hilfspolizisten terrorisierten 1933 mit der gesäuberten Polizei politische Gegner im 5. Dortmunder Polizeirevier an der Steinstraße, "Steinwache" genannt, und im zugehörigen Polizeigefängnis. Nach der Machübernahme verhafteten sie Hunderte von politischen Gegnern und Juden, sperrten sie ein und misshandelten sie.
August Schwalbe aus Dortmund, geboren 1909, war einer von 150 SA-Männern, die 1933 dort eingesetzt waren. Die SA-Terroristen fanden nach der Auflösung der Hilfspolizei ab Oktober 1933 in den so genannten "SA-Feldjägerkorps" ein neues Betätigungsfeld. 1935 wurden die SA-Männer in die Schutzpolizei übernommen. Sebastian Haffner bringt es auf den Punkt: "Räuber und Mörder als Polizei."
Rücksichtslose SA-Männer überwachen den Verkehr
Einer von ihnen war August Schwalbe, dem die SA bescheinigte hatte, dass er sich in der "Kampfzeit" von 1933 "rücksichtslos für die Bewegung eingesetzt" hatte. Er und seine Kameraden bildeten 1938 die Gendarmeriebereitschaft des Regierungsbezirks Arnsberg in Kamen. Die SA-Straßenkämpfer in der motorisierten Gendarmerie sollten den Verkehr überwachen. Ihre Unterkunft war die Kamener Gendarmeriekaserne.
Anders als die reguläre Polizei hatten "die flinken Wächter der Landstraße" keine örtlichen Zuständigkeitsbeschränkungen. Sie konnten Verfolgungsjagden über Stadtgrenzen hinweg unternehmen, um "Autoraser" zur Vernunft zu bringen.
1939 kamen die ersten Gendarmen mit der Feldgendarmerie zum Kriegseinsatz. Sie waren in ganz Europa eingesetzt.
Die einen gingen, neue Gendarmen kamen. Die zweite Generation trat 1939/40 ihren Dienst in Kamen an. 26 Freiwillige aus ganz Deutschland bildeten 1942 eine Kleine Gendarmerie- Kompanie. Sie und über 50 Kameraden aus Münster und Aachen wurden von Kamen aus im Sommer 1942 nach Lublin transportiert.
August Schwalbe dagegen blieb in Kamen zurück.
"Aktion Reinhard" und "Aktion Erntefest"
Georg Munker war von Kamen nach Lublin abgeordnet worden. Er sagte 1963 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Dortmund zum ihren Aufgaben aus: "Die Kompanien sind zu diesem Zweck von ihren Standorten aus zu den einzelnen Dörfern gefahren und haben die Juden zusammengeholt. Die Juden wurden dann erschossen."
Munker sagte:
"Ich kann auch von einer großen Massenexekution berichten. Diese fand im Spätherbst des Jahres 1943 statt. Ich fuhr damals entweder Hauptmann Fröde (aus Kamen) oder den Bataillonsadjutanten bzw. Ordonnanzoffizier zu dem großen Judenlager am Stadtrand von Lublin. (Das Konzentrationslager Majdanek) Als ich zum Lager kam, standen dort gerade tausende von Juden außerhalb der Umzäunung.
(…) Als ich im Lager war, sah ich eine große Erschießungsgrube. Diese war etwa 50 m lang, 3 m tief und 5 m breit. Als ich zur Grube kam, wurden dort gerade Erschießungen (…) durchgeführt. (…)
Ich selbst war nicht den ganzen Tag in dem Judenlager, sondern nur für wenige Stunden. An der Erschießungsgruppe selbst stand ich vielleicht 20 Minuten. In dieser Zeit könnten vielleicht an die hundert Juden erschossen worden sein. Die übrige Zeit befand ich mich bei meinem Fahrzeug und habe auf den Offizier gewartet, den ich hinausgefahren habe."
Am 3. November 1943 sind in Majdanek im Rahmen der "Aktion Erntefest", die den Abschluss der Aktion Reinhardt bildete, rund 18.000 Juden erschossen worden. Es war die größte Erschießungsaktion in der Geschichte der Konzentrationslager.
Einen Tag später setzten die Männer ihren Mordeinsatz im benachbarten Lager Poniatowa fort. Dort wurden rund 15.000 Juden erschossen. Insgesamt fielen der Aktion über 40.000 Juden zum Opfer.
Heinz Houben aus Dortmund wurde erst im Spätsommer 1943 zum Gendarmeriebataillon nach Polen abkommandiert. Er machte Dienst als Schütze und Kraftfahrer. Er erinnerte sich an die Erschießung in Poniatowa: "An einem Tage mussten wir von Lublin aus zu einem Waldgelände fahren und dieses umstellen. (…) Zu dieser Absperrung wurden auch wir Kraftfahrer herangezogen. Ich war als Schütze 3 einem MG zugeteilt. Nachdem unsere Absperrung vollzogen worden war, begann im Inneren des Waldes eine Schießerei, die länger andauerte. (…) Nach einigen Stunden wurde die Absperrung zurückgenommen und wir fuhren in die Unterkunft nach Lublin zurück. (…)." Unter der Leitung von Polizeimajor Kurt Sack tötete ein Erschießungskommando, dem Männer der Sicherheitspolizei aus Lublin angehörten, die Lagerinsassen von Poniatowa. Acht weitere Dortmunder hatten dem Gendarmeriebataillon angehört.
Während die Männer des Gendarmeriebataillons unter dem Kommando von Major Wilhelm Dörge ab Sommer 1944 überwiegend an der Front kämpfen mussten, nutzte die Dortmunder Polizei die Kamener Kaserne anderweitig. Hans Jarsing, ausgebombter Polizeibeamter aus Dortmund, bezog am 16. März 1944 mit seiner Familie eine Wohnung in der Kaserne. Die Dortmunder Polizei lagerte in Kamen "Beutebestände": Möbel und etwa 1000 Gewehre. Hauptwachtmeister August Schwalbe nahm im April 1945 die siegreichen Amerikaner in Empfang, als sie in die Kaserne einzogen.
Auch Hans Houben überlebte den Krieg. Er kehrte nach Dortmund zurück und blieb wie August Schwalbe im Polizeidienst. 20 Kamener Gendarmen hatten den Krieg nicht überlebt.
Nach Kriegsende erlebte die Kaserne wechselnde Nutzungen. Zuerst zog das Krankenhaus Kamen ein, danach bis 2011 die Autobahnpolizei. 2015 diente die Kaserne vorübergehend als Flüchtlingsunterkunft. Heute steht die Kaserne weitgehend leer. Sie wartet auf neue Nutzer. Für Zwecke der politischen Bildung bietet sich der Standort an.