Beiträge der Gedenkstätte Steinwache
"Es war grauenhaft"
Stefan Klemp

Dortmund. "Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich als Schütze andere Kameraden ablösen mußte und wer mit mir geschossen hat. Einmal wurde ich (…) abgelöst."
Ein Dortmunder Schutzpolizist war an einer der größten Massenerschießungsaktionen im Zweiten Weltkrieg beteiligt und machte dazu eine Aussage.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 marschierten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und Polizeibataillone nach Osten und ermordeten hinter der Front Hunderttausende von Menschen, vor allem Juden – Männer, Frauen und Kinder. Diese Massenerschießungen waren ein Hauptbestandteil des Holocaust. Sie wurden nicht von der SS, sondern von Polizisten verübt. Am 29. und 30. September 1941 töteten sie bei einer der größten Mordaktionen über 30.000 Juden in der Schlucht von Babi Yar bei Kiew in der Ukraine. Einer von ihnen war Franz Unseld, Jahrgang 1914, in den 1960er Jahren Wach- und Einsatzführer der Polizeidienststelle an der Steinstraße, der "Steinwache".
Franz Unseld hatte seine Laufbahn 1936 in Dortmund begonnen. Der gelernte Bierbrauer besuchte die Polizeischule. Danach machte er Revierdienst. Ab 2. November 1940 war er als Zugführer in der 2. Kompanie des Polizeibataillons 45 im Osten eingesetzt. Es gehörte zum Polizeiregiment Süd.
Auf dem Vormarsch erschossen die Männer des Polizeibataillons 45 im August und September 1941 Tausende von Juden in der Ukraine. Fast täglich hielten Funksprüche des Höheren SS- und Polizeiführers Süd den Massenmord mit schwankenden Opferzahlen fest.
Am 6. September, das Polizeibataillon 45 befindet sich in Berditschew, meldet er: "Erfolge: 144 Juden erschossen".
Die Aktion vom 29. und 30. September sticht aus der Vielzahl der Tötungseinsätze heraus:
Die Ereignismeldung UdSSR Nr. 97 vom 28. September 1941 kündigte eine „Exekution von mindestens 50.000 Juden“ an. Auf Plakaten wurden Juden in Kiew dazu aufgefordert, sich für eine „Umsiedlung“ an einem Sammelplatz in Kiew einzufinden. Warme Kleidung und Wertsachen sollten mitgebracht werden.
Als Tatort wurde eine zweieinhalb Kilometer lange Schlucht namens Babi Yar ausgewählt. Sie war zwischen fünf und 30 Meter tief.
Über 30.000 Juden kamen zum Sammelplatz. Sie wurden von Angehörigen der Polizei zu Fuß zur Schlucht getrieben, wo sie ihre Wertsachen ablegen und sich ausziehen mussten. Männer des Polizeibataillons 45 machten „Leibesvisitationen“. Dann führten sie die Menschen gruppenweise zu den Stellen der Schlucht, an denen Exekutionskommandos Aufstellung genommen hatten. 40 Männer von der 2. Kompanie des Polizeibataillons 45 bildeten ein Exekutionskommando. Sie schossen mit Maschinenpistolen.
In den 1960er Jahren wurde Franz Unseld im Dortmunder Polizeipräsidium zu seinem Einsatz als Beschuldigter vernommen:
"Die (…) herangeführten Juden (…) waren nur mit der Unterwäsche bekleidet. Männer, Frauen und Kinder kamen der Reihe nach an. (...) Die Masse stand an einem Hang und konnte auf dem Weg zur Schlucht den Exekutionsvorgang beobachten. Dann wurden auf die Juden Genickschüsse abgefeuert. Es hat jeweils nur ein Schütze abgefeuert. Beide Schützen haben sich gegenseitig abgelöst.
(…) Ich habe aber zugesehen, wie manchmal Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm an die Reihe kamen. Meistens haben die Mütter ihre Kinder hingelegt und haben zugesehen, wie ein Angehöriger des Exekutionskommandos auf das Kind geschossen hat.
(…)
Es war grauenhaft und ein kaum zu schildernder Anblick, wie die Erschießungen vor sich gingen. (…) Es war damals sehr heiß und es herrschte ein penetranter Geruch."
Die meisten Menschen wurden am ersten Tag erschossen. Abends wurde die Aktion wegen der Dunkelheit unterbrochen. Die noch Lebenden mussten in einer großen Halle übernachten, bevor sie am zweiten Tag ermordet wurden.

Die Ereignismeldung UdSSR Nr. 101 vom 2. Oktober 1941 zieht Bilanz:
"Das Sonderkommando 4 a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments-Süd am 29. und 30.9.1941 in Kiew 33.771 Juden exekutiert."
Von der Erschießung selbst sind keine Bilder vorhanden. Vermutlich am 1. Oktober machte der Fotograf Johannes Hähle, Mitglied der Propagandakompanie 637 der Wehrmacht, Aufnahmen in der Schlucht, wo noch die Kleidung der Ermordeten herumlag.
Nach Beendigung der Massenerschießungen hatten Pioniere der Wehrmacht die Ränder der Schlucht gesprengt, so dass Erdmassen die Leichen begruben.
1944 und 1945 war Unseld als Leutnant mit dem Polizeiregiment 6 in Ungarn eingesetzt. Er kam in Kriegsgefangenschaft und wurde im Mai 1946 entlassen. Er wurde als „unbelastet“ entnazifiziert. Am 11. Dezember 1951 wurde er in Dortmund als Wachtmeister wieder eingestellt.
Die Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelte in den 1960er Jahren gegen Angehörige des Polizeibataillons 45. Sie stellte das Verfahren gegen Franz Unseld 1970 ein. Engelbert Kreuzer, Chef der 2. Kompanie des Polizeibataillons 45, wurde 1971 vom Landgericht Regensburg wegen Beihilfe zum Mord zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Als Franz Unseld 1974 in Pension ging, war er Polizeihauptkommissar.
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